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07.02.2020
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Ein Hauch von großem Gestern
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Das einstige “Café Central” und andere historische Gebäude erinnern an die Blütezeit des alten Handelsplatzes Osten von Jochen Bölsche, Osten
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Der Autor, Jahrgang 1945, ist seit 40 Jahren SPIEGEL-Redakteur (inzwischen in Altersteilzeit) und Autor zahlreicher Bücher unter anderem zu Themen des Natur- und Landschaftsschutzes. Er verbringt seine Wochenenden und Urlaube seit zehn Jahren an und auf der Oste und lebt seit drei Jahren an der Fährstraße in Osten.
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Als Vizepräsident des Weltverbandes der Schwebefähren und 2. Vorsitzender der Ostener Fördergesellschaft setzt er sich für die Erhaltung des nationalen Baudenkmals Schwebefähre zwischen Osten und Hemmoor ein, als Mitbegründer und 2. Vorsitzender der AG Osteland e.V. hat er die Deutsche Fährstraße Bremervörde - Kiel sowie den alljährlichen “Tag der Oste” und die Exkursionsreihe “Unbekannte Oste” initiiert. Sein Hobby nach der Redaktionsarbeit in Hamburg: “Webpublishing” zu Oste-Themen.
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Zwei Fehler unterlaufen den meisten Fremden, die nach 21756 Osten kommen, in den kleinen Ferienort mit der stolzen Spitzturmkirche hinterm grünen Ostedeich.
Vor der häufigsten Fehlleistung warnte 1986 das “Niederdeutsche Heimatblatt” die Besucher des Dorfes. “Man beachte die korrekte Aussprache”, hieß es da: “ 'Osten' wird mit offenem 'O' (wie Kohl, Vogel, loben) gesprochen. Die Anwendung des 'falschen O' (wie Topf, Korb, Ochse) zieht in Osten unweigerlich die Korrektur durch die Ostener nach sich!”
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Über den zweiten Fehler sehen die Ooostener meistens geschmeichelt hinweg: Wer das kleine Kirchdorf als “Stadt” bezeichnet, darf mit Nachsicht rechnen - wie jener Verleger, der bereits um 1900 eine Ansichtskarte der “Stadt Osten” widmete, oder wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung”, der diese Fehleinschätzung fast hundert Jahre später unterlief.
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Ein verständlicher Fehler. Denn das dicht bebaute alte “Kirchosten”, wie es früher hieß, mit seinen engen Straßen war schon vor weit mehr als hundert Jahren alles andere als ein Kuhdorf: Keinen einzigen Bauernhof gab es innerhalb der Ortsgrenzen, wohl aber Reeder und Handwerker, Ärzte und Beamte, Händler und Hoteliers, bald auch eine Privatschule und eine Sparkasse.
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Um die vorletzte Jahrhundertwende war Osten ein florierender Handelsort mit städtischem Gepräge.
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In jener Zeit, als noch keine einzige Straßenbrücke die Untere Oste zwischen Bremervörde und der Mündung überquerte, beflügelte nicht zuletzt die Ostener Flußfähre die lokale Wirtschaft - und auch die Wirtschaften, “von denen der kleine Ort von 750 Seelen 15 aufweisen konnte”, wie die Pfarrersfrau Elisabeth Bartels verwundert feststellte, als ihr Gemahl 1906 Superintendent in Osten wurde.
“Eine große Vergnügungssucht” nahm die fromme Frau in dem wohlhabendenMarkt- und Handelsort wahr, “eine Tanzlust, wie man es noch niekennengelernt”: “Fast an jedem Abend im Winter drang aus irgendeinem Lokal Tanzmusik in die Nacht hinaus.” Schon vor ihrer Ankunft hatte sie Schlimmes über das sündige Dorf gehört: “Ja, da sollten die Lokale nie leer sein, da waren die Tische voll, auf denen der Wein stand, der in Strömen floß. Das Geld war ja in Hülle und Fülle vorhanden.”
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Das Fachwerkhaus mit dem Türmchen - heute leerstehend - beherbergte einst das “Café Central”.
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Ihren Wohlstand verdankten die Ostener über Jahrhunderte vor allem dem Fluss, der nicht nur die Fährleute ernährte, sondern auch Fischer, Schipper und Schiffbauer.
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Im Jahre 1800 - Osten war zum Wohnsitz reicher Altenteiler aus der Umgebung geworden - schickten 15 Bauern sogar einen Walfänger namens “Die Hoffnung” über die Oste auf Große Fahrt. Die Besatzung machte im Nördlichen Eismeer reiche Beute und erjagte 20 Prozent Rendite. Die Flussfischer erzielten unterdessen nicht minder gute Erträge mit Lachs, Aal und Stör; sogar die Hansestadt Hamburg versorgten die Ostener lange Zeit mit Kaviar.
Zu ungeahntem Reichtum verhalf der Fluß während des 19. Jahrhunderts jenen Anrainern, die den angeschwemmten fetten Schlick rund um Osten in 15 Ziegeleien zu Klinkersteinen brennen ließen. Die “Lehmkonditoren”, wie die Ziegeleibesitzer im Volksmund hießen, transportierten die Backsteine teils mit eigenen Schiffen bis nach Hamburg, das nach dem Großen Brand von 1842 vor allem mit Baumaterial aus Kehdingen und der Ostemarsch wieder aufgebaut wurde.
Über Nacht wurde auch in Osten so manch einer zum Krösus. “Ihr Hals hat kaum etwas Weißes gesehen, aber wenn sie den Wertpapierkasten schließen wollen, müssen sie ihn mit dem Knie zustemmen,” schrieb 1908 der Hamburger Professor Richard Linde über die im Wortsinne steinreichen Marschbauern, über deren Großkotzigkeit er Ungeheuerliches vernommen hatte: “dass sie statt der Kegel Sektflaschen aufgestellt, Goldstücke im Tanzsaal ausgestreut haben und einer einen Tausendmarkschein, auf ein Brötchen gelegt, fein zerschnitten in Barbarenhochmut verzehrt habe”.
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Noch 1900 versorgten Ostener Fischer die Hamburger mit Kaviar und Störfleisch.
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Es waren satten Jahrzehnte, in denen das Kirchdorf sogar Sitz eines “Königlichen Amtes Osten” samt Amtsgericht wurde (1850); um ein Haar wäre Osten anstelle von Neuhaus sogar Kreisstadt geworden (1884). In jenen Jahren entstanden stattliche Gebäude - von den Kornspeichern und Kapitänshäusern auf dem Ostedeich über das “Café Central” am Marktplatz bis hin zum Ausspann, zum Amtsrichterhaus und zur kaiserlichen Post. Bis auf den heutigen Tag verleihen diese zumeist denkmalgeschützten, aber zum Teil leider leerstehenden und dem Verfall preisgegebenen historischen Bauten dem Dorf städtisches Gepräge und einen gewissen Hauch von großem Gestern.
Schon hundert Jahre vor Beginn des Ziegelrauschs, der um 1840 einsetzte und gegen 1900 endete, hatten sich die reichen Ostener von keinem Geringeren als dem damaligen Stararchitekten Prey, einem Miterbauer des Hamburger Michel, ihre barocke St.-Petri-Kirche entwerfen lassen - ein wunderschönes Gotteshaus, das allerdings schon bei der Einweihung im Jahre 1748 mit seinen 1200 Sitzplätzen den Bedarf des eher kirchenfernen Landvolks weit übertraf.
Der Kirchenbesuch sei “äußerst spärlich”, klagte später auch die Pfarrersfrau Bartels: “Die reichen Hofbesitzer der Umgegend, welche auf ihren fetten Marschhöfen saßen, hatten die besten Kirchenstühle in Pacht, ein Schlüssel öffnete die Tür zu den Kirchenstühlen, aber der Schlüssel konnte rostig werden; denn selten, ganz selten erschien ein behäbig und satt aussehender Hofbesitzer mit einer äußerst aufgeputzten Frau, mit Schmuck, Federn und Pelzen überladen. Man pflegte einmal im Jahr dem Herrgott eine Visite zu machen.”
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Als hätte der kleine Ort den Zorn Gottes erregt, wurde er bald schon vom Glück verlassen. Den Ziegelsteinen erwuchs, so Chronist Linde, mit dem Kalksandstein “ein äußerst gefährlicher Nebenbuhler”, bald galt die Marsch als “nicht wenig verschuldet”. Überall an den Ufern hinterließ das rücksichtslose Abziegeln ein ruiniertes Land. Linde: “Statt des wallenden Raps- und Weizenfeldes sieht man dann, so weit das Auge reicht, nichts als Sumpf, Lachen und Schilfwildnis, für Jahrhunderte vernichtetes Kulturland.”
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Dann traf es, ebenfalls um 1900 herum, die Fischer, die zu Frevlern geworden waren: Sie hatten so lange über rückläufige Störfänge geklagt, dass ihnen schließlich die Verwendung von Netzen mit engeren Maschen von Amts wegen gestattet wurde - mit der fatalen Folge, dass der Störbestand durch Überfischung binnen weniger Jahre völlig zusammenbrach. Fortan galt das monströse urzeitliche Schuppenwesen auch in der Oste aus ausgerottet.
Schließlich traf es auch noch die Ostener Handelsherren: Die Verkehrsströme verlagerten sich um 1900 zunehmend weg vom Wasserweg und hin zur neuen Bahnlinie Harburg - Cuxhaven mit dem Bahnhof Basbeck jenseits der Oste. Wenn Eisgang, Hochwasser oder Niedrigwasser die Kahn- und Prahmfähre blockierten, war der Handelsplatz Osten tagelang von jedem Bahnverkehr abgeschnitten.
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Nach gut vierjähriger Zwangspause und gründlicher Sanierung steht das Nationale Baudenkmal Schwebefähre Osten von Ostern 2006 an wieder für touristische Demonstrationsfahrten zur Verfügung.
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So waren um die vorletzte Jahrhundertwende die fettesten Jahre für das fidele Osten vorbei - wenngleich die Gemeindeväter mit dem wagemutigen Beschluß, eine Schwebefähre über die Oste zu bauen, ihr Verkehrsproblem lösen konnten - vorübergehend.
Doch das ist eine andere Geschichte.
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